Gestern Nacht zogen wir in losen Familienverbünden durch die kulturellen Wirkungsstätten unserer seltsam provinziellen Großstadt. Für jeden, der die echte Provinz überlebt hat, bedeutet eine Stadt wie diese trotzdem noch Freiheit, aber nach sechs Jahren fühlt sich die neue Heimat auch für mich manchmal wie ein Nest an. Ich finde das aber gar nicht so verkehrt, immer dieselben Gesichter zu sehen, die sich ja doch verändern mit der Zeit – nur kein Stillstand. Und bei aller Vertrautheit ist irgendetwas doch immer neu und anders.
Los ging es im Atelier neun, einem Ort, den ich jetzt zum ersten Mal besucht habe, obwohl es ihn schon seit zwanzig Jahren gibt. Als der Laden zu leben begann, wurde ich gerade eingeschult, und trotzdem ist das eigentlich gar nicht so lange her. Damals war es zwar noch nicht üblich, per Beamer Bilder und Atmosphäre auf Hauswände zu projizieren, aber vielleicht gab es damals schon eine Bank auf genau diesem Vorsprung, auf dem Ausstellungsbesucher saßen und sich Kippen drehten. Und jeder kannte jeden oder zumindest irgendwen.
Das Jubiläumsprogramm lief, Freunde hatten eingeladen, wie immer halt. Nicht jeder kennt jeden, aber jeder kennt irgendwen, der irgendetwas auf die Beine stellt, und jeder stellt selbst irgendetwas auf die Beine. Ich war nicht der Ausstellung wegen hier, sondern weil das Rahmenprogramm ausschließlich von Menschen gestaltet wurde, die ich gern habe, und ein besseres Rahmenprogramm konnte niemand sich wünschen. Meine Mentorin und Verlegerin Miriam Spies las Tucholsky, meine geschätzten Weggefährten Daphne Knickrehm und Roman Dobrovolny musizierten als Folk-Duo Goose and Gander. Welten trafen zusammen, ganz sachte.
Sicher geht so was nicht ohne Schwierigkeiten – die Musik ist sanft und wunderschön, Tucholsky eher Krieg und Leichenteile, man raufte sich die Haare, fand sanfte und wunderschöne Tucholsky-Gedichte und den Humor ebenso wie die Düsternis in alten Zwanziger-Jahre-Schlagern. Miriam kämpfte mit einem hochprofessionellen Vortrag gegen die eine gespenstische, aber aufmerksame Stille, die leider verhinderte, dass laut gelacht oder aus tiefstem Herzen geseufzt wurde, was hin und wieder durchaus angebracht war.
Goose and Gander waren so charmant nervös, dass alle sie gern haben mussten. Ihre Folksongs sind von so viel subtil schräger Schönheit, dass der eine verpatzte Coversong wohl nur der Legendenbildung zuträglich sein kann. Jetzt klingt der Text fast wie ’ne Rezension. Dies ist keine Rezension, denn ich bin ja parteiisch.
Mir fällt übrigens erst jetzt ein, dass sich all diese Menschen ohne mich vielleicht nicht einmal kennengelernt hätten, oder zumindest unter anderen Umständen, und freue mich über die ganzen Zufälle. Daphne und Roman studierten zwar mit mir gemeinsam Literatur, doch wenn Roman und ich zum Studienbeginn nicht in derselben Bruchbude gehaust hätten, wäre diese Band vielleicht niemals entstanden, und einige andere Dinge sicher auch nicht. Eigentlich wollte ich damals mit in die Band, aber dann kam wie immer alles anders, und so ist es gut. Miriam kennen die beiden sowieso nur, weil ich mich damals vor fünf Jahren von Weitem unsterblich in diese verdammt coole Frau verliebt hatte, die immer überall da war, wo ich auch war oder sein wollte – und weil ich nicht zu feige war, um sie anzusprechen. So ist das manchmal mit der Liebe.
Jetzt sind wir alle schon fast alte Ehepaare und zogen an diesem gestrigen Abend unsere sozialen Zirkel um uns, die sich in Teilen überschneiden, in Teilen aber auch ganz weit auseinander stehen, wo nicht jeder jeden kennt, aber jeder irgendwen und es sich so schließlich doch anfühlt wie Familientreffen, in der Art der Nähe ebenso wie der Distanz. Das grelle Licht und die weißen Wände kühlten die Atmosphäre etwas herunter, aber es ist trotzdem ein guter Ort. Unzählige Farbflecke haben den Boden selbst zu einem abstrakten Klecksgemälde gemacht, das mich fast noch mehr faszinierte als die eigentliche Ausstellung. (Die lohnt sich aber durchaus auch.)
Danach wurde im Hinterhof geraucht, sich verbrüdert, aufgeräumt. Neue Pläne wurden geschmiedet. Während sich die einen endlich entspannen konnten, gerieten die nächsten schon wieder in Panik und versuchten sich an Krisenbewältigung; irgendwas ist immer, nur kein Stillstand. Bald waren wir unterwegs, in kleinen Gruppen, die einen noch zum Dönermann, die anderen nochmal kurz nach Haus, ein paar auf direktem Wege. Manche mussten sich verabschieden, aber das ist okay, sie sind beim nächsten Mal wieder dabei.
In der Dorett platzten wir mitten in ein Akustikkonzert. Die Musik erinnerte an Gysbert zu Knyphausen, für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr, aber wir waren ja auch nicht der Musik wegen hier. Manchmal landet man an Orten und bleibt dort hängen und fühlt sich zu Hause – so geht es mir derzeit mit dieser Bar, um die sich meine sozialen Zirkel immer enger ziehen, als sei diese kleine rote Raucherkneipe gerade der Nabel unserer kleinen, bunten Welt, als sei hier gerade etwas am Enstehen, die Summe vieler kleiner Teile. Die Dorett will mehr Kultur machen, wir sowieso immer, alles fügt sich wunderbar zusammen, und es lag ein gewisser Enthusiasmus im Raum, auch unter den Nachzüglern und den Beistehenden, in der ganzen verlausten Verwandtschaft.
Wir rauchten und tranken und redeten, wir tanzten und feierten unseren Tatendrang. Wir waren so selbstherrlich und großspurig, wie man es nur spät Nachts sein kann, mit viel Alkohol und mit Freunden.
Wir wurden weniger, wir wurden betrunkener, wir tanzten weiter. Um uns herum bald nur noch Volltrunkene, Notgeile und Freaks, die man hier zum Teil jeden Abend trifft, die manchmal lustig sind und manchmal unheimlich und die einem hin und wieder ein bisschen leid tun. Am Ende waren wir nur noch zu dritt auf der Tanzfläche, drei besoffene Weiber, die nicht nach Hause wollten, es aber trotzdem mussten.
Also teilten wir uns einen Döner und mampften uns im Wechsel durch menschenleere Straßen. Auf dem Weg fanden wir ein Klappbett auf dem Bürgersteig, das wir mitnahmen, weil es sonst ganz offenbar keiner mehr haben wollte. Das Bett hatte sogar Rollen und machte damit einen tierischen Lärm, der zwischen Münsterplatz und Schillerplatz so ziemlich alle aufgeweckt haben muss, aber es war uns ein Zeichen. Eine von uns würde in meinem Wohnzimmer auf diesem Bett schlafen müssen, weil die Nacht zu schön war, um sie in Einsamkeit zu beschließen. Wir rollten das Bett nach Hause, schauten Fotos, hörten Radiohead und schliefen ein, eine nach der anderen, in der zutiefst beruhigenden Gewissheit, dass es morgen mit all dem weitergehen würde – nur kein Stillstand.