Manchmal fügt sich aber auch einfach alles zusammen, so schicksalsmäßig. Vielleicht hatte ich aber auch einfach nur den richtigen Riecher. Zufall kann es jedenfalls nicht gewesen sein, dass ich ausgerechnet jetzt, nachdem ich den zweiten Thor: The Dark World (2013) gesehen habe, den glorreichen Entschluss fasste, es der halben Tumblr-Gemeinde nachzutun und mich obsessiv mit Tom Hiddleston zu befassen. Den hatte ich zwar schon seit Marvel’s The Avengers (2012) auf dem Schirm, und er stieg noch deutlich in meiner Gunst, weil er Adam in Jim Jarmuschs Only Lovers Left Alive (2013) gespielt hat, aber irgendwie hatte es noch nicht dazu gereicht, dass ich es mir – meinem üblichen Procedere folgend – auf seiner IMDB-Seite wohnlich einrichte. Mittlerweile fühle ich mich dort aber schon recht Zuhause. Ich habe mir dank Seiner Höflichkeit endlich die neuesten BBC-Inszenierungen von Shakespeares Henry IV und V (The Hollow Crown, 2012) zu Gemüte geführt, zum inspirierenden Miss Austen Regrets (2008) mit einer großartigen Olivia Williams in der Hauptrolle Tränen fließen lassen – und bin vor allem auf die britische Autorenfilmerin (Regie und Drehbuch) Joanna Hogg gestoßen. Jene passte mir so dermaßen gut in den Kram, dass es schon fast zu schön ist, um wahr zu sein.
Wie einige meiner treuen Freunde und Verwunderten bereits wissen mögen, habe ich mir nämlich kürzlich eine Hausarbeit zum Thema Minimalismus in Jim Jarmuschs Stranger Than Paradise abgerungen – und die bisher zwei Filme Joanna Hoggs, die Tom Hiddleston seine ersten größeren Rollen auf der Leinwand zuspielten, passen stilistisch hervorragend in die Reihe der Werke, die Grob, Kiefer und Co in ihrem lesenswerten Band „Kino des Minimalismus“ beschreiben und einordnen. Allzu gängig scheint diese Einordnung noch nicht zu sein. In den IMDB-Reviews zum Film (auch in den positiven) ist von Minimalismus jedenfalls nicht die Rede, oder eben nur indirekt: Kein Skript, keine Kameraarbeit, keine Handlung, so der empörte Vorwurf an Hoggs zweiten Langfilm Archipelago (2010), den ich mir aufgrund dieser Anpreisungen sofort zu Gemüte führen musste.
Der Moment passte aber auch perfekt. Jetzt gerade bin ich so empfänglich wie nie für diese Art der Bildgestaltung und der Narration, nachdem ich zumindest ein paar Filme Yasujiro Ozus gesehen und Jarmusch unter diesem Gesichtspunkt neu entdeckt habe. Beide Regisseure lassen sich deutlich als Referenzpunkte für Hoggs Filme ausmachen. Sie teilt mit ihnen die Vorliebe für Reduktion auf narrativer wie visueller Ebene, für lange Einstellungen, eine bis zur Bewegungslosigkeit ruhende Kamera (Ed Rutherford) und die geduldige Inszenierung von Leerstellen. Diesem ästhetischen Prinzip verschreibt sie sich in Archipelago mit strenger Konsequenz, weit mehr als in ihrem Erstling Unrelated (2007), den ich mir natürlich auch sofort anschauen musste. Auch abgesehen von Tom Hiddleston, der in Unrelated sein Kinodebüt gab, haben die beiden Filme so viel gemeinsam, das sie wie Geschwister wirken, wenn man sie nebeneinander zum Familienfoto aufstellt.
Das war jetzt eine äußert elegante Überleitung, denn damit wären wir auch schon beim zentralen Motiv Hoggs, das sie wiederum mit Ozu teilt. Auf ganz ähnliche Weise, wie jener in seinen „shomin-geki“-Filmen vom Alltagsleben ganz gewöhnlicher japanischer Familien erzählte, befasst sich Hogg mit den feingliedrigen Dynamiken in britischen Verwandtschaftsverbünden. Ihre beiden bisher erschienenen Langfilme zeigen einen Familienurlaub, in dem sich die divergierenden Sensibilitäten der einzelnen Akteuere so lange aneinander reiben, bis sie schließlich Funken schlagen. Trotz des nahezu identischen Motivs und einer ähnlichen Inszenierung entfalten sie eine sehr unterschiedliche atmosphärische Wirkung: Während in Unrelated ein umfangreicher, munterer Clan seine Ferien in der sonnigen Toskana verbringt, legt Archipelago den Fokus weit konzentrierter auf den angeknacksten Kern einer brüchigen Familie. Nur Mutter, Tochter und Sohn erscheinen zu diesem letzten gemeinsamen Ausflug – die Abwesenheit gleichzeitige Anwesenheit des Vaters ist ständig spürbar und legt sich drückend über drei verlorenen Charaktere. Die wiederum scheitern im verkrampften Versuch, ein Gefühl der Gemeinsamkeit heraufzubeschwören, das vielleicht irgendwann einmal da gewesen ist. Archipelago zeigt eine Familie, die sich nicht im Urlaub befindet, sondern im Prozess eines langen Abschieds.
Schon die schroffe Landschaft der britischen Scilly-Inseln bei mediokrem Wetter entzieht den Bildern alle Wärme, und der Kamerablick unterstützt diesen Eindruck bereitwillig. Nicht umsonst beginnt der Film nicht mit einer Aufnahme der Landschaft, sondern der eines gerade entstehenden Gemäldes, das die Wirklichkeit durch die Augen des Künstlers abbildet. Der Landschaftsmaler, der Mutter und Tochter Unterricht gibt, beschreibt oft die Farben der Insel, doch wir sehen sie nur auf der Leinwand, weil uns die Bildkadrierung und der typisch britische Nebel den Blick versperren – ähnlich wie in Jarmuschs Stranger Than Paradise (1984) , wo das Trio einen See in Cleveland betrachtet und dem Zuschauer, unterstützt durch Überbelichtung, nichts als weiße Wüste entgegenstrahlt. Wir sehen die Insel durch die Augen der Familie, und alles wirkt daher ziemlich trist.
Von Beginn an hat man das Gefühl, dass eine Vergangenheit auf diesen Figuren lastet, die uns der Film nur langsam und bruchstückhaft begreifen lässt. Sie manifestiert sich in dem Ferienhaus, das die Familie schon früher angemietet hatte, obwohl nicht klar ist, warum, denn keiner von ihnen scheint sich hier allzu wohl zu fühlen. Drinnen sind die Farben noch trister, kühles Weiß und dunkles, vergilbtes Grün dominieren, und die Figuren bewegen sich steif in den vorgeblich vertrauten Räumen. Vor allem Edward, der „kleine“ Bruder, will so gar nicht mehr in diese Familienwelt passen. Mehr als in jedem anderen Film wird hier Tom Hiddlestons Größe inszeniert – ständig muss er gebeugt laufen, um sich in seinem verwinkelten Dachzimmer nicht den Kopf zu stoßen, und wird von den Schrägen in die Ecke des Bildkaders gedrängt.
Hogg inszeniert das Haus als Akteur des Films und lässt die Räume für die Figuren sprechen, die einander nicht viel zu sagen haben. Hierin erinnert die Kinematografie am meisten an Ozu, an seine Inszenierung japanischer Wohnhäuser mit ihren dünnen Reispapierwänden, etwa in Banshun (1949, siehe unten). Ganz nach seinem Vorbild lässt sie die Figuren in wiederkehrenden Einstellungen auf verschiedenen Ebenen durch das statische Bild laufen, selten gemeinsam, oft aneinander vorbei, aber dennoch unweigerlich miteinander interagierend auf einer Fläche, die viel zu klein ist für ihre stark divergierenden Persönlichkeiten und Lebensentwürfe.
Thematik, Setting und die überschaubare Anzahl von Figuren macht den Film prädestiniert für die minimalistische Erzählweise, die sicher auch in einem engen Budget ihre Inspiration findet. Zwar verharrt die Kamera auch schon in „Unrelated“ meist auf einem Platz, doch hier wird auch die Bewegung im Bild selbst stark reduziert. Die leichtfüßigen Ausflüge durch die toskanische Landschaft kontrastieren den beschwerlichen Kraxeleien auf den Bergen der britischen Insel, die die Geschwister in einer Mischung aus Spiel und Konkurrenzkampf bewältigen. Dort wuseln Cousins und Cousinen durch den weitläufigen Garten, hier sitzt die Kleinfamilie starr auf ihren Sesseln und schaut ihrer Konversation beim Dahinsiechen zu.
Auf ganz unterschiedliche Weisen zeigen die beiden „Spiegelfilme“, was es heißen kann, Familie zu sein. Gerade dafür sind auch die außenstehenden Figuren besonders wichtig, die im positiven wie im negativen Sinne als Störfaktoren fungieren – die Köchin in Archipelago nimmt da eine ganz ähnliche Rolle ein wie die Freundin der Familie, die Hoggs Debütfilm seinen Titel gibt. Dennoch streift Archipelago auch die wenigen ornamentalen Qualitäten seines Vorgängers rigoros ab und bricht das Thema Familie auf sein Zentrum herunter. Die Differenzen beider Produktionen lassen sich ganz wunderbar an Hiddlestons Charakteren festmachen: Oakley wirkt wie der Innbegriff sorgloser, hedonistischer Jugend (ein Eindruck, der natürlich nur dem ersten Blick standhält), der introvertierte Edward dagegen wie jemand, der viel zu früh das Grübeln angefangen hat und noch nicht am Ende seiner Grübeleien angekommen ist.
Edwards nahender Aufbruch nach Afrika ist es, der die tiefliegenden Spannungen im familiären Konstrukt an die Oberfläche bringt, so sehr sich seine Schwester Cynthia auch bemüht, die Fassade des Familienurlaubs aufrecht zu halten. Seine oft enervierende Nettigkeit und ihr alles verschlingender Kontrollzwang wollen sich einfach nicht vertragen, und natürlich kann das nicht lange gutgehen. Doch auch die unvermeidlichen emotionalen Ausbrüche inszeniert der Film diskret und in distanzierten Einstellungen, sein Klimax läuft sogar ausschließlich auf der Tonebene ab. Was zwischen den Figuren passiert, ist so wenig dramatisch, die Konflikte oft so erschreckend still. Daher wohnt den ganz subtilen Dramatisierungsverfahren eine enorme Durchschlagkraft inne: Etwa wenn die Kamera in diesen seltenen Momenten ihre Distanz zum Geschehen vermindert und in eine halbnahe oder nahe Einstellung wechselt, die in diesem Film so rar gesät sind.
Gerade dadadurch wirkten jene Momente auf mich besonders intensiv – aber auch, weil ich mich und meine eigene Familie (in ihren schwierigeren Momenten) so deutlich in ihnen wiedererkannte. Selten habe ich mich mit einer Figur so identifizieren können wie mit Edward, der im Restaurant vom Tisch aufstehen muss, weil er die Spannung nicht mehr aushält, nur um wenige Szenen später ebenso intensiv mit Cynthia zu fühlen, die über ihrem eigenen Verhalten und der Reaktion ihres Bruders verzweifelt. Selten habe ich es erlebt, dass zwei so unterschiedliche, ja widerstreitende Figuren in mir in gleichem Maße eine solch intensive Anteilnahme auslösen können.
Nicht nur deshalb ist „Archipelago“ für mich eine äußerst intime Angelegenheit. Um diesen Film richtig zu sehen, muss der Zuschauer mindestens ebenso leise und aufmerksam sein wie die Kamera, die uns einen flüchtigen, offenen Einblick in das Leben dieser Figuren bietet – Figuren, die dank des Schauspiels, vor allem aber der Inszenierung so lebensnah scheinen, dass man es manchmal kaum aushalten kann.