Gestern war noch Sommer.
Am Ende bricht Robert Carlyle in Tränen aus – wieder einmal. Weinen muss der schottische Nationalschauspieler in mindestens jeder zweiten seiner filmischen Veräußerungen. Er kann es aber auch besonders gut. Sicher gibt er auch mal Gangster, Psychopathen und den ein oder anderen magischen Kobold, aber am besten kann dabei er immer noch traurig sein und diese Traurigkeit direkt in unser kleines, vertrocknetes Zuschauerherz projizieren. In Kenneth Glenaans Summer (2008) spielt er nicht zum ersten Mal den traurigen Mann, aber er tut es hier so verdammt gut, dass der Film nicht nur, aber auch deshalb zu den besten seiner seiner nicht unbeträchtlichen Karriere zu zählen ist.
Was Summer als klassischen Carlyle-Film auszeichnet, ist vor allem der Umstand, dass die mit rauen sozialrealistischen Bildern und kontemplativen Einstellungen ausgestaltete Narration eine klare gesellschaftskritische Linie verfolgt. Summer erzählt vom umfassenden Versagen eines maroden Bildungssystems, dem es nicht gelingt, sogenannten „Problemkindern“ eine Zukunft zu geben. Shaun kann nicht schreiben, seine Hände wollen einfach nicht so recht, und weil Lehrer, Ärzte und seine Mutter keine Mittel besitzen, damit angemessen umzugehen, ist sein tragisches Schicksal von Beginn an vorprogrammiert. Wie es dazu kommt, dass er den Sprung ins Erwachsenenleben nie recht schafft, dass er sein verschlafenes Heimatdorf nicht verlässt und mit Mitte vierzig noch den Erinnerungen an jene glücklichen Sommer seiner Kindheit nachhängt, erzählt der Film in Rückblenden, die in ihrer bitteren Nostalgie an die Kindheitsschilderungen in Stephen Kings Roman It oder der King-Verfilmung Stand by Me (beides 1986) denken lassen.
Noch ’ne Gemeinsamkeit: Fahrradfahren als Freihheitsmotiv.
„It’s like an emotional Rubik’s cube or something“, sagt Regisseur Glenaan über die Erzählstruktur des Films. „If there is any success in the film it’s in trying to bring those disparate elements together into, hopefully, an emotional whole.“ Ankerpunkt für dieses Gefühl der Geschlossenheit sind die wenigen Szenen, in denen die Zeitebenen zusammengeführt werden (siehe Still ganz oben). Die sind auch deshalb besonders beeindruckend, weil das Filmteam aus der Not eine Tugend machte: Wegen Geldmangels musste man auf Effekte verzichten, setzte stattdessen auf einfallsreiches Setdesign und baute kurzerhand Shauns Schlafzimmer im Feld oder am See auf. Dass der Moment, als Shauns Jugendliebe Katy dem See entsteigt und ihn im Schlafzimmer besucht, in einer ungeschnittenen Einstellung gefilmt ist, unterstreicht Shauns direkte emotionale Involvierung mit seiner Vergangenheit und ist ganz nebenbei auch einfach bloß sauschön gemacht.
Im Zentrum des Films steht aber vor allem die innige Beziehung Shauns zu seinem Jugendfreund Daz (Steve Evets), der im Rollstuhl sitzt und an Leberzirrhose leidet und um den er sich mit ebenso viel ruppiger Sorgfalt kümmert wie um dessen Sohn Daniel (Michael Socha). Weil ich abseitige zwischenmenschliche Beziehungen aller Art generell sehr spannend finde , hat mich diese ungewöhnliche Familienkonstellation beim zweiten Sichten des Films besonders fasziniert. Carlyle und Steve Evets, der auch in Ken Loachs Looking for Eric (2009) einen wunderbaren Job macht, haben als Shaun und Daz eine unglaubliche Chemie und schaffen es, mit kleinen Gesten die zärtliche Zuneigung zu zeigen, die die emotional desillusionierten Charaktere selbst hinter einer Fassade adoleszenter Beleidigungen verstecken.
Regisseur Glenaan lässt den beiden Schauspielern viel Raum, um durch Performance zu erzählen. In der Szene, als die beiden erfahren, dass Daz bald sterben muss, ist die Kamera die ganze Zeit über still auf sie gerichtet und lässt den Zuschauer auf intimste Weise daran teilhaben, wie die beiden Freunde versuchen, durch verzweifelten Humor mit der Schreckensnachricht umzugehen. Allein für die ungeschönte Darstellung der Angst vor dem Tod – dem eigenen und dem eines geliebten Menschen – lohnt sich der Film, weil es die Charaktere in nackter, zutiefst menschlicher Hilflosigkeit zeigt. Als Robert Carlyle schließlich in Tränen ausbricht, nachdem er in ausdauernder Akribie die Wohnung geputzt hat, um zu verdrängen, wie traurig er eigentlich ist, bringt das die fesselnde emotionale Intensität, die der Film in seiner zweiten Hälfte aufbaut, auch im kleinen, vertrockneten Zuschauerherz zum Implodieren.
Aber so tränendrüsig, wie das jetzt alles klingt, finde ich Summer eigentlich gar nicht. Dafür ist viel zu viel ansteckende Lebensfreude in den Rückblenden, in denen die Freunde mit ihren Fahrrädern durch Wald und Feld jagen, und es macht durchaus Spaß, ihnen beim Schabernack-Treiben zuzugucken, auch wenn man schon weiß, wohin das alles mal führen wird. Und auch in der tristen Jetztzeit ist nicht alles trist und manches sogar sehr lustig, auf eine triste Art und Weise.
Zum Beispiel Shaun auf Happy Pills. Mit Seifenblasen.
Vor allem aber liegt dem Film so viel Menschlichkeit inne, die das ganze Unglück irgendwie erträglich macht. Das Gefühl der Ausweglosigkeit ist hier längst nicht so vorherrschend wie etwa in Born Equal (2006), einem anderen so typischen Carlyle-Film, der ebenfalls ziemlich gut ist, aber halt auch so verdammt ausweglos. Summer könnte ich mir sofort zum dritten Mal angucken, Born Equal habe ich beim ersten Mal schon nur mit Mühe durchgehalten.
Hoffnung spendet vor allem die Beziehung zwischen Shaun und Daniel. Als Daniel volltrunken im Hinterhof eines Pubs vor sich hin kotzt, hebt Shaun ihn vom Boden auf, und als Shaun in Trauer versunken im Sessel dahinvegetiert, gibt Daniel ihm diese bedingungslose Fürsorge zurück. Auf die Frage, was nach Daz‘ Tod mit Daniel passieren wird, antwortet Shaun wie selbstverständlich: „He’ll stay with me.“ Und obwohl sich am Ende des Films eigentlich gar nicht so viel zum Positiven verändert hat, hat sich doch ein bisschen was getan, hauptsächlich in Shauns Kopf. Vielleicht ist das sowieso das einzig Wichtige.