Otto Sander (* 30. Juni 1941; † 12. September 2013) als Cassiel, angel of solitude.
Update: Die komplette Arbeit gibt’s jetzt hier als PDF zum Download, dazu den darin zitierten Schlagwortkatalog Multiple Diegesen.
Zu diesem Text ist eine Einführung unvermeidlich.
Im Sommersemester 2012 betraute Herr Dr. Roman Mauer die Studenten, die sein Seminar „Multiple Diegesen“ (auf gut deutsch: Mehrere Erzählwelten) besuchten, mit einer ganz und gar nervenzerreißenden Aufgabe: Einen Schlagwortkatalog zu ebenjenem Thema zu entwerfen. Ich hievte mir das speziell abseitige Thema „Magischer Realismus“ auf den Buckel und verzweifelte – vor allem, weil mein Hirn für so eine trocken analytische Herangehensweise nicht gemacht ist. Gleichzeitig lernte ich aber auch ein paar ganz wunderbare Filme kennen – unter anderem Wim Wenders‘ Himmel über Berlin.
An diesen Film musste ich als erstes denken, als mich am vergangenen Donnerstag die Nachricht vom Tod des großen deutschen Schauspielers Otto Sander ereilte, der darin meinen Lieblingscharakter Cassiel spielte. Statt etwas Neues zu schreiben, will ich euch zu diesem Anlass lieber einen Auszug aus jenem Text vorlegen, den ich schrieb, als meine Faszination für diesen beeindruckenden, liebenswerten Film noch ganz frisch und besonders intensiv war. Es ist naturgemäß die trockenste, analytischste Hausarbeit, die ich je verfasst habe und wohl je verfassen werde – freiwillig hätte ich das sicher nicht so geschrieben. Dennoch: wenn ihr Mut und Muße habt, mit diesem Exzerpt in den Diegesenwahnsinn abzudriften, könnt ihr meine zärtliche Begeisterung sicher zwischen den Zeilen herauslesen, wo sie mit hyperaktiv zitternden Flügelchen vor sich hinflattert.
(Btw, Herr Dr. Roman Mauers Kommentar zum Text hab ich ja schon: „Sehr genaue Beschreibungen erzielen eine Durchdringung der Gestaltungsweise, allerdings könnten teilweise Abstrahierungen und Verdichtungen den Erkenntnisgewinn stärken […]“ Ach ja, Verdichtungen. Mit denen bin ich noch nie so warm geworden.)
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Aus der Einführung:
„Wim Wenders‘ Himmel über Berlin (1987) erforscht die Dualität der Realdiegese1 im Berlin Ende der 80er Jahre und einer hypothetischen Magischen Diegese2, der der Engel, die über die Stadt wachen und das Leben der Menschen beobachten.
Zentraler Konflikt ist der des Engels Damiel, der sich im Zwiespalt zwischen der geistigen Welt der Engel und der sinnlichen Welt der Menschen befindet und sich schließlich für letztere entscheidet.“
1 Diegese, deren diegetischer Hintergrund kompatibel mit der intersubjektiven Realitätsvorstellung der Zuschauer erscheint und von den Zuschauern deshalb als „real“ angenommen wird.
2 = Fantastische Diegese: Jene Diegese, die die magische/fantastische Welt darstellt, samt ihrem spezifischen diegetischen Hintergrund, der von dem der Ausgangsdiegese abweicht.
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2.2 Vom Engel zum Menschen: Gradueller Wechsel der Diegesen
Nachdem der Zuschauer durch Damiel einen Einblick in das Leben eines Engels erhalten hat, wird Damiels zwiespältige Haltung dazu ausgestaltet, speziell anhand der Unterschiede zwischen Damiel und seinem Freund, dem Engel Cassiel. Während Cassiel in der Bibliothekssequenz (00:16:24 – 00:22:25) mit geschlossenen Augen den geistigen Ergüssen der Menschen lauscht, die als nur für ihn hörbare Musik dargestellt werden, beobachtet Damiel das Verhalten der Menschen und möchte sich nicht mit seinem „Engelssinn“ zufrieden geben, sondern deren Sinne, etwa das haptische Fühlen, selbst erfahren – daher greift er nach einem Stift und nimmt ihn an sich, wobei seine Hand und der Gegenstand durch Doppelbelichtung durchsichtig erscheinen, was die Verschränkung der Diegesen verdeutlicht.
Damiels Annäherung an die Realdiegese wird vor allem durch seine Zuneigung zur Trapezkünstlerin Marion, realdiegetischer Gegenpol zu Cassiel, dargestellt und verstärkt. Als Damiel zum ersten Mal auf sie trifft und sie beim Proben beobachtet (00:24:54 – 00:28:44), wird mit den für die Diegesen etablierten Kameraperspektiven gespielt. Er beobachtet sie aus erhöhter Position, wobei Marion ebenfalls eine exponierte Stellung einnimmt – sie ist zwar menschlich, als Trapezkünstlerin jedoch nicht an die Erde gebunden, sondern nimmt eine Zwischenposition zwischen Damiel und den Menschen am Boden ein.
Seine Faszination für Marion bringt Damiel dazu, ihr am Seil nach unten auf die Erde zu folgen, bis sie sich auf gleicher Höhe befinden und er wie sie für die Kamera sichtbar ist. Dies ist eine Vorausdeutung auf den Handlungsverlauf und Damiels Menschwerdung. Mit abrupten Schnitten findet zudem zum ersten Mal ein kurzer Farbwechsel1 statt, der etabliert, dass die Menschen die Welt farbig, die Engel sie in schwarzweiß wahrnehmen, und andeutet, dass Damiel durch Marion einen kurzen Blick in die Welt der Menschen erhalten hat.
Später im Film, nachdem er sich weiter den Menschen angenähert und sein Wunsch, selbst menschlich zu werden, sich gefestigt hat, beobachtet Damiel Marion erneut am Trapez (01:12:42 – 01:19:31). Nachdem der Film die Parameter der Diegesen festgelegt und variiert hat, werden sie nun umgekehrt: Diesmal schaut er von unten zu ihr auf, was die Kamera mit Aufsichten zeigt. Damit entspricht sein Blickwinkel dem der realdiegetischen Figuren – er begibt sich absichtlich in die Menschenperspektive, um ihre Sichtweise nachzuempfinden. Nur die schwarzweiße Bildgestaltung und seine ungewöhnliche Positionierung in der Manege markieren die Trennung der Diegesen. Zudem wird hier wie in den beiden folgenden Szenen das Fehlen der Gedankenmonologe als weiteres Stilmittel zur Umkehrung eingesetzt. Damiel hört nicht – wie Cassiel eingangs – mit Genuss den Gedanken der Menschen zu, sondern deren Gesang, Musik und Gesprächen. Nur kurz lauscht er bei einem Konzert (01:20:31 – 01:24.51) in Marions Gedanken hinein, wobei es zu einer starken diegetischen Verschränkung kommt, da sie auf seine Berührung direkt in Gedanken reagiert. Die beiden Figuren der Magischen und der Realdiegese sind einander zu diesem Punkt viel näher als die Engel Damiel und Cassiel.
Auch Cassiel ist bei dem Konzert anwesend – während Damiel die Nähe zu Marion und den Menschen in der Menge sucht, bleibt er aber abseits des Geschehens auf der Bühne. In der Nacht vor Damiels Menschwerdung, die beide in einer Paralellmontage getrennt erleben, betrachtet Damiel die Freuden des Menschseins aus der Engelperspektive – an Cassiel sieht der Zuschauer hingegen die „Schattenseiten“ des Engel-Daseins.
Zum ersten Mal missglückt eine Kommunikation zwischen der Magischen und der Realdiegese, als Cassiel vergeblich versucht, einen Selbstmörder durch seine Präsenz vom Springen abzuhalten (01:06:36 – 01:09:06).
Cassiels Fall von der Siegessäule (01:09:45 – 01:11:00) paralellisiert diesen Sprung, was zeigt, dass sich er das Erlebnis zu Herzen genommen hat. Die Kamera nimmt seine Perspektive ein und zeigt, wie er sich durch das nächtliche Berlin bewegt. Die Szene kombiniert bekannte Verfahren wie die Egoperspektive, das Einblenden von Flügelschlägen und Dokumentaraufnahmen der Vergangenheit mit einer stark verwackelten, hektischen Kamera, kontrastiert mit Cassiels ruhigem, traurigen Gesichtsausdruck. So wird dem Zuschauer gleichzeitig ein neuer Einblick in die Wahrnehmung des Engels gegeben, der die Umgebung wie im Zeitraffer aufnimmt, als auch in seine ins Wanken geratene Gefühlswelt.
Kontrastiert mit Damiel, der sich in geselliger Runde befindet, ist Cassiel nachts mit anderen Engeln in der Bibliothek (01:19:31 – 01:20:31), sie wirken gelangweilt und missmutig. Wieder wird hier die Abwesenheit der Gedankenmonologe als Stilmittel eingesetzt, jedoch mit anderer Funktion: Während Damiel dadurch Genuss am einfachen Dasein der Menschen findet, führt sie bei Cassiel und den anderen Engeln zu Einsamkeit, da sie ihrer Aufgabe nicht nachgehen können und eine Leere in ihrem Leben wahrnehmen.
Damiels Annäherung an die Realdiegese resultiert schließlich in seinem Diegetischen Übergang2 (01:27:22 – 01:32:10). Abwechselnd bewegt sich die Kamera um ihre Gesichter, die Naheinstellung auf Damiels Gesicht wechselt von schwarzweiß zu Farbe3, konstrastiert mit den schwarzweißen Einstellungen auf Cassiels Gesicht.
Ebenfalls deutlich wird seine Transformation dadurch, dass hinter ihm Fußstapfen im Sand auftauchen und er nun als Mensch den Wachposten auffallen kann, da er nun auch den Gesetzen der Realdiegese unterliegt. Nach seiner Transformation (01:32:10 – 1:36:12) muss sich Damiel erst in seiner neuen Diegese zurechtfinden, was durch sein sozial leicht unkonformes Verhalten4 deutlich wird. Zum ersten Mal nimmt er mit Erstaunen Farben und Geschmack wahr, und in der Interaktion mit einem Passanten merkt man, dass er noch nicht in menschlicher Konversation geschult ist. Während Damiels Fortbewegung in der Magischen Diegese zumeist durch elliptische Montage dargestellt wurde, sieht man ihn nun als Mensch an der Mauer entlang laufen.
Durch Damiels Übergang verlagert sich die Narration stärker in die Realdiegese. Nur über Cassiels Perspektive kehrt er in die Ausgangsdiegese zurück. Durch die unterschiedliche Farb- und Tongestaltung (Gedanken, Musik) werden die Magische und die Realdiegese fortwährend kontrastiert und die Figuren zu den jeweiligen Diegesen zugeordnet, etwa, als sich Cassiel erst mit Marion, dann mit Damiel auf dem verlassenen Zirkusplatz befindet (01:42:07 – 01:47:25): Während Damiel und Marion in der Realdiegese existieren, auch wenn sie zunächst räumlich getrennt sind, ist Cassiel zwar mit beiden am gleichen Ort, kann jedoch die diegetische Barriere nicht überschreiten; Kommunikation zwischen den Diegesen ist nur indirekt möglich.
Im Epilog (02:02:02 – 02:04:35) wird noch einmal die Figur auf der Siegessäule als Paralelle zum Dasein als Engel gezeigt, das Cassiel nun ohne Damiel weiterführt. Jener ist vollkommen in der Realdiegese angekommen: Als er Marion bei ihren Übungen hilft, hält er ihr Seil, das sie verbindet, und sie ist diejenige, die vom Boden abhebt, während er sie aus einer Untersicht betrachtet. Cassiel sitzt dagegen abseits und ist durch eine runde farblose Stelle im Bildkader diegetisch von ihnen getrennt. Dadurch, dass zum ersten Mal in einer Einstellung Farbe und Schwarzweiß gemeinsam gezeigt werden, wird besonders deutlich markiert, dass sich die drei zwar an demselben Ort befinden und dennoch durch die diegetische Trennung weit voneinander entfernt sind, da Cassiel weiterhin der Magischen Diegese zugehörig ist.
1Verfremdung der Farbe, Schlagwortkatalog S. 3
2 Katalog S. 6
3Übergangsmarkierung, Katalog S. 7
4Alternative Verhaltensformen, Katalog S. 2