(Vorsicht, freilaufende Spoiler!)
Einer geht in die Knie und hält die Hände auf. Der andere, bestenfalls der Leichtere von beiden, stellt den Fuß hinein und stemmt sich nach oben. Und wenn er oben ist, muss er in die Knie gehen und dem anderen die Hand reichen. So macht man eine Räuberleiter.
Eine Räuberleiter macht man, wenn man nichts anderes hat – nichts als sich selbst und den anderen.
Diese eigentlich so simple Geste ist es, die das PS3-Spiel The Last Of Us in einer einzigen Spielhandlung zusammenfasst: Wer wem wann über ein Hindernis hinweghilft – oder eben nicht – sagt oft mehr über den Fortgang der Geschichte und die Beziehung zwischen den Charakteren aus, als es die Cutscences allein könnten. Auf derart subtile, virtuos ins eigentliche Spiel verwobene Weise erzählen uns Naughty Dog mit The Last Of Us eine Geschichte von Hürden und von Räuberleitern, vom Helfen und sich helfen lassen.
Damit hat der Protagonist Joel nämlich so seine Probleme, und schon nach dem Prolog kann der Spieler bis ins tiefste Innere nachfühlen, warum. Joel hat seine Tochter verloren, auf grausamste, bitter ironische Weise – und dass er nicht in der Lage war, sie zu beschützen, ist ein Trauma, das er nie verwunden hat. Der Prolog, der den Spieler all das Chaos beim Ausbruch der Pilzinfektion miterleben lässt, macht auf markerschütternde Weise die Hilflosigkeit spürbar, die Joel in diesem Moment empfindet – in diesem einen Moment, als der Soldat das Gewehr hebt und schießt. Diese Machtlosigkeit will man nie mehr empfinden, weder Joel noch der Spieler. Für beide aber ist The Last Of Us eine Reise in die Machtlosigkeit, und gerade das macht die Figur, die wir in diesem Spiel steuern, so interessant.
Erst war auch ich ein wenig enttäuscht darüber, nicht das Mädchen spielen zu dürfen, das man in den Trailern gesehen hat, sondern stattdessen wieder so einen kaltblütigen, kaltschnäuzigen, stinknormalen Videospielheld vor der Nase zu haben. „In the game’s resistance to allowing the player, for much of the story, to control — or, to use a more accurate word, to inhabit — Ellie, The Last of Us casts her in a secondary, subordinate role“, schreibt sich etwa Chris Sullentrop in der New York Times diese Enttäuschung von der Seele . Mittlerweile bin ich mir aber ziemlich sicher, dass es seinen Grund hat, warum wir Joel spielen müssen. Während viele andere Spiele mit ihren testosterongefüllten Protagonisten, die alles wegballern, was sich ihnen in den Weg stellt, als Machtfantasien kleiner Jungs daherkommen, ist Last Of Us eher das Gegenteil: Eine Entmachtungsfantasie, die die (immer noch überwiegend männlichen) Spieler durch Joel schmerzlich den Grenzen ihrer eigenen Kräfte gewahr werden lässt. Wie Joel muss auch der Spieler lernen, dass er es alleine nicht schafft – dass er einen Partner braucht, um die Hürden bewältigen zu können.
Dabei ist Ellie so ziemlich der letzte Partner, den Joel sich ausgesucht hätte – ein vierzehnjähriges, äußerst lebhaftes Mädchen, die in ihm von Beginn an ebenso viel Irritation wie Beschützerinstinkt weckt und vor der er insgeheim mehr Angst hat als vor allen Infizierten, weil sie alles durcheinander bringt. Plötzlich ist sie da, und es ist sein Job, auf sie aufzupassen. Als Joel führt der Spieler Ellie durch eine postapokalyptische Ruinenwelt, in der die Natur in all ihrer Pracht und all ihrer Hässlichkeit die zerfallenen Städte zurückfordert, die auf eine beklemmende Art und Weise wie die unseren und doch ganz anders aussehen. Hier schlägt er sich mit Runnern und Clickern rum – und mit anderen Überlebenden, die die Zombies manchmal regelrecht alt aussehen lassen. Was sich einem erst als typische Escort-Mission präsentiert, entpuppt sich schließlich als die schleichende Erkenntnis, dass das mit dem Eskortieren ein wechselseitiger Prozess ist. Lange Zeit will Joel das nicht einsehen und macht es sich schwerer, als er müsste, indem er Ellie eine Waffe verweigert und sie auf die Rolle der Beschützten beschränken will. Warum er so handelt, das lässt das Spiel unausgesprochen, so wie es in der Charakterzeichnung viele ambivalente Stellen gibt, die er Spieler mit eigenen Interpretationen ausfüllen muss.
Ellie aber ist, wie er, eine Überlebende, und obwohl sie die meiste Zeit ihres Lebens in der relativ geschützten Quarantine Zone verbracht hat, lernt sie schnell, sich da draußen zurechtzufinden. Mit viel Selbstbewusstsein und einer gewinnenden Sturheit fordert sie von Joel den Respekt ein, der ihr dafür zusteht, und das Recht, als gleichberechtigter Partner an seiner Seite zu stehen.
„Make every shot count.“
In der von Zombies bevölkerten Zukunft von The Last Of Us ist Gewalt Notwendigkeit und Mitgefühl eine fatale Schwäche: „This is the kind of thing that’s getting you killed“, stellt der selbstgewählte Einzelgänger Bill fest, als er bemerkt, dass Ellie für Joel nicht nur ein Job ist. Dennoch ist der Drang des Menschen, soziale Bindungen einzugehen, stärker als der reine Überlebenstrieb. Aus den zerrütteten sozialen Netzen der unseren Welt entwickeln sich notgedrungen neue Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens – mal solche, die auf gegenseitiger Fürsorge beruhen und daran trotz allen guten Willens grausam zerbrechen, mal solche, in denen Rücksichtnahme, zumindest gegenüber Außenstehenden, keine Rolle mehr spielt und die gerade deshalb funktionieren.
Immer wieder wird deutlich, dass die simplen, traditionellen Beziehungen in dieser Welt keinen Platz mehr haben. Die kleinste soziale Einheit ist nicht mehr die Familie, sondern die Partnerschaft. Neben der zwischen Ellie und Joel, die sich nur sehr mühsam zusammensetzt, lernen wir verschiedenste weitere Partnerbeziehungen kennen, zwischen Liebenden oder zwischen Brüdern, und sie alle sind erfüllt von der schrecklichen Furcht, allein auf der Welt zu sein, wenn der andere nicht mehr da ist. Immer wieder müssen sich auch Ellie und Joel auf ihrem Weg dieser Furcht stellen und lernen, damit umzugehen, und das schweißt sie zusammen. Gleichzeitig macht sie es notwendig, dass man sich auf den jeweils anderen verlassen kann, dass man die Stärken des anderen erkennt und nutzt, um sich selbst am Leben zu halten. Dadurch entspannt sich zwischen den beiden ungleichen Hauptfiguren eine einzigartige, von jedem gängigen Rollenverständnis losgelöste Zweierbeziehung. Sie ist deshalb so faszinierend, weil sie weit über das etwas offensichtlicher angelegte Vater-Tochter-Verhältnis hinaus geht und stattdessen unmittelbar von den beiden beteiligten Individuen gestaltet wird – unabhängig von Alter oder Geschlecht.
Wie nötig Joel Ellie an seiner Seite braucht und wie essentiell es ist, dass er in der Lage ist, sich ihr anzuvertrauen und sich auf sie zu verlassen, lernen Protagonist und Spieler wiederum mit einem ordentlichen Paukenschlag. Nachdem Joel sich auf fieseste Art und Weise eine üble Verletzung zugezogen hat, ist sie es, die ihnen die Feinde vom Leib hält, während er am Boden liegt und ihm schwarz vor Augen wird. Und schließlich ist es unvermeidlich, dass er ihr den Arm um die Schultern legt und sich von ihr stützen lässt. Eindrücklich lässt das Spiel uns wieder diese Machtlosigkeit spüren und gleichzeitig begreifen, dass man sie akzeptieren muss, dass man sein Schicksal in die Hände desjenigen legen muss, den man eigentlich beschützen gerne beschützen würde. Und dann endlich passiert das, worauf ich das ganze Spiel über gewartet habe: Jetzt endlich lässt man uns auch Ellie spielen, die sich subtil, aber nicht unerheblich verändert hat, seit wir sie kennengelernt haben. Sie muss nun damit klarkommen, in ihren Entscheidungen und Handlungen auf sich gestellt zu sein und zugleich auf jemanden Acht zu geben, der schwächer ist als sie – viel schwächer, als sie es je gewesen war.
Es ist fast so, als wolle uns das Spiel über den eher typischen Videospielcharakter Joel sanft an die eher untypische Protagonistin Ellie heranführen und dabei mit ein paar Gewohnheiten und Vorurteilen brechen, die auf der anderen Seite der Spielkonsole noch vorhanden sein mögen. Das eigentliche narrative Kunststück des Spiels ist es jedoch, uns gleich zwei Figuren aus verschiedensten Blickwinkeln so nahe zu bringen, dass wir sie nicht nur als Individuen verstehen lernen, sondern vor allem auch die komplexe Bindung nachfühlen können, die zwischen ihnen entsteht. Und weil The Last Of Us das so toll hinbekommen hat, habe ich vollstes Vertrauen darin, dass die Geschichte eine würdige Fortsetzung erhalten wird. Ein, zwei unbedingte Wünsche habe ich dennoch: Dass die Spielreihe ihren hier begonnenen Erzählansatz fortsetzt und im zweiten Teil beide Figuren gleichermaßen spielbar macht – und dass es auch dann wieder jede Menge Räuberleitern gibt.
„But man – you can’t deny that view.“
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Im Venturebeat-Interview mit Dean Takahashi gehen die beiden Köpfe hinter Last OF Us, Neil Druckman und Bruce Straley, unter anderem auf die Kritik an der Geschlechterrollenverteilung in ihrem Spiel ein und tauchen tief in die Hintergründe zur Figurengestaltung ein. Lohnt sich!