Zum Tod von Otfried Preußler (20. Oktober 1923; † 18. Februar 2013)
„Kurz und gut: auf die Dauer wird mir die Sache zu anstrengend. Nichts ist lästiger auf der Welt, als ständig den bösen Mann zu spielen! Immerzu Missetaten verüben müssen, auch wenn einem gar nicht danach zumute ist; immerzu Großmütter überfallen und Fahrräder klauen; und immerzu auf der Hut vor der Polizei sein: das zehrt an den Kräften und sägt an den Nerven, glaubt mir das!“1
So hieb- und stichfest begründet der Räuber Hotzenplotz im dritten und letzten Teil seiner gesammelten Abenteuer, warum ihm „das ganze Räuberwesen zum Hals heraus“ hängt. Nach zwei Bänden des Kaffeemühlenklauens, des Sauerkrautstehlens und des Autoritätenaustricksens hat der „Mann mit den sieben Messern“ keinen Bock mehr – und beschert dem kindlichen Leser den wohl ersten Heel Face Turn2 seiner literarischen Laufbahn. Auch auf mich hat diese Wendung der Geschichte damals einen bleibenden Eindruck hinterlassen: Sie beeinflusst bis heute, wie ich fiktionale Figuren wahrnehme. Wenn ich heute über den Räuber Hotzenplotz nachdenke, wird mir so einiges klar.
Mit seiner literarischen Variation auf das Räuber-und-Gendarm-Spiel des Kasperletheaters hat der vergangene Woche verstorbene Otfried Preußler eine zeitlose Geschichte verfasst, die trotz sprachlicher Anachronismen über Generationen hinweg bis heute ihre Wirkung nicht verfehlt. Ihre Faszination entfaltet sich aus dem klassischen Zwiespalt zwischen Gut und Böse, in den der kindliche Leser hier auf spielerische Art und Weise eintaucht: Personifiziert durch Kasperl und Seppel sind wir dem Bösewicht zwar auf den Fersen, aber zugleich sind wir der Bösewicht, und das mit einigem Genuss. Nicht umsonst ist es der Räuber, der den Geschichten ihren Namen gibt und der mitsamt seinen Artefakt-Eigenschaften3 – der befederte Hut, die Hakennase, der Stoppelbart und der Messergurt – in unser kulturelles Gedächtnis eingeprägt hat. Im Grunde ganz ähnlich wie Freddy Krüger, nur halt mit Kaffeemühlen. Oder so. Seine Streiche sind gerade böse genug, um ihn als Bösewicht zu markieren, aber zugleich harmlos und spaßig genug, um ihn uns ans Herz wachsen zu lassen in seiner räuberischen Raubeinigkeit.
Hinter der Figur Hotzenplotz steckt aber noch mehr als die Coolness des Banditen. „Man versteht ihn als schrulligen Außenseiter, ungefährlichen Strolch, schlitzohrigen Aufschneider mit rüdem Charme“, heißt es im Nachwort4 zu meiner heißgeliebten und vielgelesenen Gesamtausgabe, in die ich in krakeliger Schreibschrift meinen Namen gekritzelt habe. In den Büchern Preußlers, die mir als Kind ebenso wichtig waren wie die Astrid Lindgrens, sind die Helden oft Außenseiterfiguren, die einfach nicht in ihren gesellschaftlichen Kontext passen wollen, so sehr sie es auch versuchen mögen; etwa das kleine Gespenst, das nachts schwarz wird statt weiß, oder die kleine Hexe, die nicht versteht, dass eine gute Hexe eben gerade keine gute Hexe ist. Wenn man selbst das Gefühl nicht loswird, irgendwie nicht reinzupassen, schließt man solche fiktiven Wesen nur zu bereitwillig ins Herz – und dann kann gerade die Empathie mit einer Figur, die sich bewusst jedem Versuch der Anpassung verweigert und das Hausen in der Räuberhöhle dem Schrebergartenleben vorzieht, unglaublich befreiend wirken. Und auch wenn man den einfältigen, aber gutmütigen Seppel oder die schrullige Großmutter absolut ins Herz schließen muss, übt das Räuberleben mit seiner Autoritätsverachtung und Gefährlichkeit einen Reiz aus, dem man sich nicht entziehen kann. Aber das ist eben das Schöne an prosaischer Fiktion: Der Leser muss sich auch gar nicht entscheiden.
Und trotzdem kann ich gar nicht sagen, wie ich mich gefreut habe, dass sich der Hotzenplotz am Ende vom Räuber zum Räuberwirt wandelt, dass die einstmaligen Antagonisten plötzlich Freunde werden und dem Ex-Bösewicht schließlich bei der Resozialisierung unter die Arme greifen. Diese überraschende Wandlung könnte den Grundstein gelegt haben für eine Überzeugung, die bis heute mein Denken, mein Schreiben und mein Doppelleben in der Fiktion maßgeblich beeinflusst: Menschen – und fiktive Figuren – sind nie nur gut und böse, sie haben die Freiheit, zu entscheiden und sind deshalb nicht statisch, sondern wandelbar – und dasselbe gilt dadurch auch für das gesellschaftliche oder fiktionale Gefüge, in dem sie sich befinden. Bis heute sind es deshalb nicht in erster Linie die bösen Figuren, die mich besonders begeistern, sondern jene, die über ihre Funktion als Bösewicht hinaus mit Uneindeutigkeiten und Freiräumen ausgestattet sind, die sie zu komplexen Charakteren machen – und solche, die schließlich doch gar nicht so böse sind, wie man zuerst meinen will.5
In der Geschichte des Räuber Hotzenplotz nahm ich zum ersten Mal bewusst wahr, wie das Schwarzweißdenken, mit dem man in Kinderbüchern und -filmen oft abgespeist wird, dekonstruiert und aufgelöst wird. Nicht zuletzt fühlte ich mich dadurch auf gar wundersame Weise durch einen Autoren, dessen Geschichten mir so wichtig waren, in meiner eigenen Figurenrezeption bestätigt und bestärkt: Einer, der eine Kaffeemühle klaut, weil sie „ein Lied spielt, wenn man daran kurbelt“6, der kann doch eigentlich gar kein so schlechter Mensch sein, und selbst für jemanden, der Großmütter auf dem Gepäckträger entführt, kann es irgendwo noch Hoffnung geben. Dass Hotzenplotz schließlich nicht im Spritzenhaus7 landet, sondern mit den Helden beim Festmahl schlemmen darf und dass er sich als Räuberwirt im Räuberwald zugleich dennoch seinen Außenseiterstatus bewahrt, hat mich damals sehr glücklich gemacht. So glücklich, dass ich mit keinem Menschen getauscht hätte: nicht einmal mit mir selber.8
1Preußler, Otfried: Alles vom Räuber Hotzenplotz. Stuttgart 1973, S. 302
3Begriff nach Eder, Jens: Figurem im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008
4Gärtner, Hans: Nachwort, in: Alles vom Räuber Hotzenplotz. Stuttgart 1973, S. 363
5Etwas selbstkritischer könnte ich auch sagen, dass ich zum „Leather Pantsing“ neige… aber das soll an anderer Stelle erörtert werden. http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/DracoInLeatherPants
6Räuber Hotzenplotz, S. 7
7Nur einer der vielen wunderbar schrägen Anachronismen, deren Bedeutung sich mir damals nur halb erschloss, die ich bei der Lektüre aber nicht hätte missen wollen. Bitte nicht alles rausstreichen, liebe Verlage!
8Vgl Räuber Hotzenplotz, S. 362