We are ugly but we have the music

Leonard Cohen, 3. September 2010, Bowling Green/Wiesbaden.

Zu den ersten Kontrabassklängen von „The Future“ hüpfe ich durch die eisernen Gitterstäbe am Einlass, vorbei an den blauen Plastikrängen der dritten Klasse, den Pappschildern mit großen schwarzen Druckbuchstaben und den mit strahlend weißen Tischdecken ummantelten Stehtischen. Ich fühle mich großartig dabei, wie ein Boxer, der zu seinem ganz persönlichen Thema in den Ring stolziert. Es ist das zweite Lied, das Leonard Cohen bei seinem Konzert in Wiesbaden spielt. Während des ersten Songs sah man mich noch hektisch an Einlass und Kasse vorbei hetzen, den Panikschweiß auf der Oberlippe und die Ungewissheit im Nacken, doch jetzt bin ich regelrecht stolz auf meine chronische Unpünktlichkeit, die so verlässlich ist, dass ich schlussendlich meistens doch zur rechten Zeit ankomme. Nur dank ihr habe ich jetzt diesen großartigen, magischen Moment.
„The Future“ ist vielleicht mein Song des Jahres, ein Lied, das man unglaublich laut und in hoher Dosis hören muss, um seine ganze diabolische Durchschlagkraft so richtig zu begreifen. Cohens abgründig rollender Orkan von einer Stimme kracht darin so dermaßen gegen einen klassischen Gospelchor, dass es eine Wonne ist. Und dann der Text… so sorglos böse, auf eine verstörende Art passend zum beschwingten Uptempo-Sound. Diese fatalistische Hoffnungsfreute im Angesicht des sicheren Untergangs ist genau das, was mich gerade kickt. Überdreht springe ich auf und ab und lasse mich zu zwei oder drei Pirouetten hinreißen, während ich mich wundere, dass ich meine eigene Stimme beim Mitsingen tatsächlich hören kann. In meinem Brustkorb geht ein kleines Feuerwerk los, für einen kurzen Moment fühle ich mich so glücklich, dass es auf die Tränenkanäle und die Lunge drückt und mir beinahe ein bisschen schlecht wird.

Ich kann nicht aufhören, mich zu bewegen, bis wir längst an den extrem schlechten für uns reservierten Plätzen vorbeigerauscht und am Rollstuhlfahrer-Podest angekommen sind, wo wir mit unseren Füßen für den Großteil des kommenden Konzerts Kuhlen in den Kies graben würden. Erst nach dem großartigen Ende des Stückes verteilt sich das Blut, knallhart in Birne und Herz geschossen, wieder im übrigen Körper. Ich beginne also, es nicht fassen zu können, dass ich tatsächlich hier bin. „Er ist so klein“, raune ich verblüfft, während Cohen sich für das „warm welcome“ bedankt, „hätte irgendwie gedacht, er wär‘ größer.“ „Eingegangen“, vermutet mein ziemlich großer Begleiter trocken. „Haha.“ Nein, wirklich. Klein mit Hut ist er, wortwörtlich. Das kann ich nur an den Größenverhältnissen auf der Bühne ausmachen, von hier aus sieht er sowieso bloß wie ein Miniaturcohen aus. Den Meister so richtig lebensgroß erfahren, das kostet, und zwar nicht Muskelkraft und Ellbogenpower. Kurz starre ich ein wenig mutlos auf kleine, oft graue oder weiße Hinterköpfe und erkenne, dass hier diese etwas martialische, aber im Grunde funktionierende Demokratie abgeschafft ist. Während sonst immer die dem Meister ganz nah sein dürfen, die aus glühender Liebe am meisten zu ertragen gewillt sind, empfängt hier eine kapitalistische Elite Privilegien, die sie sich zumindest auf emotionaler Ebene nicht zwangsläufig verdient hat.

Ein Typ mit Cowboystiefeln und Samtsakko drückt sich an mir vorbei, schnellen Schrittes, Blick zum Kies, in seiner Hand hält er eine Sektflasche mit orange-pinkem Inhalt, ihm stakst eine erschreckend solariumverschrumpelte Alte mit blond gefärbten Haaren und winzigem schwarzen Kleid auf High Heels hinterher. Von links und rechts hüllen mich süßliche Parfümwolken ein, weiß berockte Kellner fragen, ob wir halb legalen Steher noch etwas zu trinken haben möchten und halten uns lächelnd Brezeln unter die Nase. Natürlich sind hier auch die mit den langen, zottigen Haaren, die mit den Bandshirts oder die, denen man ansieht, dass sie irgendwann mal lässig waren, doch viele scheinen da zu sein, um da zu sein und weil sie es sich leisten können, wie bei einem Volksfest oder einer Wohltätigkeitsveranstaltung. Hinter ihnen wird es billiger, wenn auch längst nicht billig; Herr Cohen und seine großartige Begleitband werden immer kleiner und die Stühle irgendwann aus Plastik. „The poor stay poor, the rich get rich, that’s how it goes“, singt Leonard Cohen. Keine Drei-, sondern eine Vierklassengesellschaft macht das hier, die Viertklassigen sitzen draußen, auf der gesperrten Wilhelmsstraße, auf Picknickdecken, trinken Wein aus Pappbechern und lauschen Cohens abgrundtiefem Organ über blickdichte Palisaden aus weißem Plastik hinweg. Den Rest stellen sie sich vielleicht vor.
Der Rest, das ist eine kleine Geste: Ein Lüpfen des schwarzen Hutes, der langsam zur Brust geführt wird, ein Senken des über und über grauen Hauptes, auf den gleich wieder der Hut gesetzt wird, ein bescheidenes Lächeln. Leonard Cohen ist ein waschechter Gentleman mit einem geballten Charisma, das noch über die Plastikpalisaden reicht, aber kein Platzhirsch. Bei Soli seiner Musiker ist er plötzlich noch viel kleiner, bis er für – die übrigen ziemlich beeindruckende – Sharon Robinson zum überraschend unauffälligen Backgroundsänger wird. Im pechschwarzen Anzug geht er in der schwarzen Bühnenverkleidung seltsam unter. Und dann ist er doch wieder so präsent, dass es fast schon unheimlich ist, dieser kleine, alte Mann mit der schwarzen Gitarre und dem schwarzen Hut. Nicht alles, was er macht, gefällt mir. Wenn er sich zu sehr zum anschmiegsamen Folk neigt und Herzensangelegenheiten so mit der Harfe unterlegen lässt, dass es am Schwulst knapp vorbei schrammt, berührt mich das nicht dort, wo es mich berühren sollte, und Flamenco-Gitarrensoli kann ich auch nicht in jeder Situation etwas abgewinnen. Ich mag die Wüstensongs, zu denen der Held durch die Prärie galoppiert, oder der Gangster, oder beide; ich mag den trockenen Pessimismus und die lakonische Art, mit der er in „Chelsea Hotel No. 2“ die großartige Zeile „You told me again you preferred handsome men, but for me you would make an exception“ ins Mikrofon raunt. Weniger Barde der Masse und mehr Dirty Old Man könnte er sein, wenn es nach mir ginge, und wenn in „The Future“ Analsex vorkommt, dann gehört er bitteschön, zumindest oral, auch so auf diese Bühne – selbst wenn sektschlürfende Erstklässler daran Anstoß finden könnten.

Doch, natürlich, es ist nicht nur die VIP-Fraktion hier, die sich am Fressstand ein schrumpliges Sechs-Euro-Schnitzel kauft. Einer in kurzer Hose, mit langem Haar, Kapuzenpulli und bekritzelten Chucks, steht rechts von mir und sagt zu seinem Kumpel: „Mir kommt’s so vor, als ob die B-Seite verstimmt ist“. Erst halte ich den Kommentar für prätentiös und überflüssig, und dann berührt er mich doch irgendwie, wenn ich auch nicht direkt sagen kann, wieso. Über den fussligen Kopf des Kerls hinweg fällt mein Blick zufällig auf die Terrasse eines der bombastischen Gebäude, mit denen Wiesbaden seine Wilhelmsstraße so weltmännisch wirken lassen will. Eine ganze Gruppe dreister Gauner lümmelt da auf rötlich-gelbem Gestein, lässt die Beine vom Dach baumeln und genießt den Ausblick auf den Mini-Cohen und das apokalyptische Donnergrollen seiner Stimme for free. Verzückt blinzle ich zu den Guerillia-Guckern nach oben. Als Leonard Cohens Band ausgerechnet in dem Moment zu „Waiting for the Miracle“ ansetzt, entzünden sich in meiner Magengegend wieder ein paar Kracher, die offenbar vom letzten Mal noch übrig waren.

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