Jetzt ist Sonne. Kein Mensch weiß, wie lange es dauern wird, und Pessimisten sagen, es wird nicht allzu lange dauern, aber jetzt ist jedenfalls Sonne. Beseelt starre ich auf Gleise, die da so rechts von mir vorbeihuschen, höre Leonard Cohen und suche meine Schultern nach ihrem ersten Sonnenbrand des Jahres ab. Ich neige weder zu Sonnenbrand noch zu Sonnenbräune, sondern zu vornehm vampiresker Blässe, und eigentlich auch nicht zur übermäßigen Sonnenverehrung (und das nicht nur, weil die Sonne, wie jede gute Esofeministin weiß, das männliche Prinzip ist). Dennoch hatte ich alles das dieses Jahr schon einmal, ersteres nicht auf den Schultern, sondern im Gesicht, zweiteres wie gewohnt nicht allzu lange und letzteres aus verständlichen Gründen. Was ist auch besser als ein Festival, das erste Festival des Jahres, mit den ersten echten Sonnentagen des Jahres einzuleiten? Zugegeben, da waren auch die tsunamiähnlich verheerenden Regengüsse, die hunderte von Festivalbesuchern pudelnass machten und denen ich Brechts feucht gewordenes halbes Gesamtwerk für einen unverschämt günstigen Preis zu verdanken habe, doch von diesen Spaßverderbern will ich hier gar nicht reden.
Nein, Sonne ist jetzt, und ich hoffe stark, dass ich sie mir auch in zwei Wochen noch auf den Pelz brennen lassen kann, beim nächsten, großen und schattenlosen Festival. Sollte sie allerdings nur einen kurzen Abstecher in dieses Land vorhaben, das ja durch den Grand-Prix-Gewinn eigentlich auch schon genug beschenkt wurde, gibt es Strategien – und damit meine ich nicht das Vorzelt, das in diesem Jahr nichtsdestotrotz wohl sehr praktisch sein wird. Was hilft, ist grundloser Positivismus und gute Musik, Leonard Cohen zum Beispiel, oder State Radio.
Als State Radio in der Räucherkammer gastierten, war Sonne fürs Open-Ohr-Festival nur zu erhoffen, nicht mal zu erahnen. Es war für Mai so unangemessen kalt, dass ich mich nicht mit dem nassgeschwitzten Oberteil vor die Tür traute und deshalb meine Kohle in ein viel zu großes neues Bandshirt investierte. State Radio haben aber etwas im Sound und im Gefühl, diese Kälte im Handumdrehen wett zu machen. Zweimal hatte ich sie zuvor gesehen, mittags auf großen Bühnen im strahlenden Sonnenschein, und hier erlebte ich die drei so unterschiedlichen Kerle zum ersten Mal nicht aus einer Distanz von zehn Metern, sondern hatte sie direkt vor der Nase – ein Vorteil der Räucherkammer und der unzähmbaren Anziehungskraft der vorderen Reihen, der ich doch jedes Mal wieder erliege. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, an dem Abend ein bisschen langsam zu machen, und eigentlich hatte ich geglaubt, damit durchzukommen, doch als ich kurz vorher noch einmal „Year of the Crow“ auspackte und das tolle „Gang of Thieves“ im Dauerreapeat auf den Ohren hatte, kamen mir bereits Zweifel.
Das hatte ich also davon, dass ich diese Band manchmal so ein bisschen vergessen oder sie im Hinterkopf auf ihren smoothen Reggae-Anteil reduziert hatte: Viel zu leichtes Schuhwerk für Reihe eins. Außerdem wieder Portemonnaie geplündert für ein viel zu großes Bandshirt, aber das hatten wir ja schon. Dass ein Publikum zu State Radio so abgehen konnte und das State Radio ein solches Abgeh-Potential beinhalteten, überraschte mich – sonst jedoch blieb es beim Erwarteten, und das muss gar nicht mal schlecht sein. Wie erwartet drei skurrile Typen, die rein optisch wie wahllos zusammengewürfelt scheinen: der schnieke Drummer, der schon leicht ergraute Bassist und der Sänger mit dem rotstichigen Wuschelhaar sahen auch von Nahem wie von Weitem aus. Trotzdem neu und anders irgendwie. Und dann die Stimme, so angekratzt wie intensiv, was soll ich sagen: Ein kleines, scheues Lächeln, ein flüchtiger Blick aus glänzenden Rehaugen und war verliebt, wieder einmal. Natürlich war auch das nicht neu und überraschte mich genauso wenig wie die Reihenfolge der Setlist, die kleinen politischen Ansprachen zwischen den Songs oder die spektakuläre Ölkanistergitarre, die sich der Wuschelkopf bei jedem Gig für einige Songs umschnallt.
State Radio mussten mich an dem Abend aber auch gar nicht weiter überraschen. Dafür schafften sie es, dass ich, im Moshpit versinkend, kurz das Gefühl hatte, über meinem Schädel dräue der offene Himmel mit penetrantem Sonnenschein, der jetzt da draußen am Zugfenster vorbeizischt. Nicht nur die Erinnerung schaffte das, sondern auch die Klänge, die viel von nostalgischem Jahrmarkt haben, von Zirkus-Wohnwagenplatz oder dem was ich mir darunter vorstelle, von leichtfüßigem Bauchtanz. Das heißt aber nicht, dass die Musik leicht ist. Manchmal ist sie nicht mal leicht zu ertragen, wenn man so einen Anti-Gutmenschen-Reflex in sich hat, der auch bei mir wieder einmal einsetzte, als die Musiker das Publikum zum Greenpeace-Stand baten.
Doch auch abhängig davon haben State Radio viel mehr von Rage Against The Machine, als es mir meine trügerische Erinnerung hatte vorgaukeln wollen. Und jetzt funktioniert meine Erinnerung wieder nicht richtig. Sie erzählt mir fast nur von dem sandigen Erdstab, der mir da beinahe die Nasenlöcher und den Rachen verklebt hätte. Gerade, während sie „Gang of Thieves“ spielten, hätte ich fast wirklich geglaubt, dass er da ist.