Turbostaat am Montag, 10. Mai 2010, im Schlachthof Wiesbaden (Räucherkammer)
Erst weiß ich nicht recht, ob das so eine gute Idee war: Mich, vom langen Uni-Tag ermattet, hungrig und gerade auch eher misanthropisch eingestellt, in diesen Zwinger zu pferchen, wo sich Körper an Körper quetscht und gleich die Hölle losbricht. Ich fühle mich zu schwach, ständig andere anzustoßen, anderer Leute Anstöße abzuwehren und überhaupt alle anderen nicht anstößig zu finden. Schon warte ich nur auf den, der mich schief von der Seite anglotzt oder mir in die Hacken hackt, ohne geplant zu haben, was ich im Fall des Falles mit ihm machen würde. Alles in allem also keine allzu viel versprechende Ausgangssituation. Und als dann die Hölle tatsächlich losbricht, scheint sich alles zu bestätigen: Ich weiche aus, hebe die Hände schützend vor die Brust, hüpfe halbmotiviert auf der Stelle und werfe scheue Blicke in die unberechenbaren Wogen links neben mir. Mein Lächeln ist halbherzig und zweifelnd. Ich frage mich, ob ich vielleicht gar nie dafür gemacht gewesen war, für die Hitze, die Klaustrophobie, die Ellbogen, die Wut und das Leid, vor allem das Leid. Den ganzen ersten, mir leider leidlich unbekannten Song über geht das so. Dann aber das jähe Ende des Zweifelns: „Fraukes Ende“, um genau zu sein.
Ich weiß gar nicht recht, wie mein butterweicher Körper und mein feiger Geist diesen nahtlosen Übergang bewerkstelligen. Vielleicht ist es die Mischung aus Erleichterung und Euphorie, dieses angenehm melancholisch-fatalistische Lied wieder zu erkennen und trotz schlechter Akustik die Zeilen abrufen zu können, die aus der Kehle von Sänger Jan kratzen und krauchen: Hört sich traurig an. Ist es auch. Vielleicht ist es aber auch ein bisschen Sänger Jan selber, dem sich so ein fassungsloses Lächeln ins Gesicht getackert hat, das den ganzen Abend lang dort bleibt und ihn wie einen Fünfjährigen ausschauen lässt, dem man gerade ein riesiges Eis gekauft hat. „Wo kommt ihr denn alle her?“, will er von uns wissen und konstatiert dann ungläubig: „Ey, es ist Montag! Und ihr habt den ganzen Laden hier ausverkauft!“ Offensichtlich, denke ich, bevor mich der Sog verschlingt und die Wellen unerbittlich über meinem Kopf zusammenschlagen.
Das ist also der Moment, an dem ich die Kontrolle meines Körpers aufgebe und mich selbst wie eine astreine Masochistin völlig dem ekstatischen Leid überlasse. Ohne es richtig realisiert zu haben, sind mein Hüpfen und mein Lächeln echt geworden und ich folge dem Takt des Schubsens und Geschubst-Werdens, den mir die übrigen Leiber gnadenlos vorgeben. Meine Hand reckt sich der Decke entgegen, wie sie es bei einem wahren Punkkonzert zu tun hat; nach dem Rhythmus der Zeilen, die ich kräftig mit brülle, stößt sie Löcher in die Luft. Manchmal frage ich mich wirklich, ob ich ich das noch kann, was ich früher, zu Irokesen-Zeiten, so oft gemacht habe: Ob ich es noch ertrage, schmerzhaft gegen das Bein oder auf den Schuh getreten, Gleichgewicht raubend von überall umgeworfen zu werden und zahlreichen Hintermännern directement in die Nasenlöcher gucken zu können, manchmal frage ich mich das, nur jetzt nicht mehr.
Halb werde ich nach vorne geschoben, halb strebe ich selbst zur Bühne hin, um dem Geschehen noch näher zu sein und bloß nichts zu verpassen – auch wenn das bedeutet, dass ich dem Zentrum des Strudels unerbittlich näher komme. Die einzelnen Gesichter, die dabei auf mich zu schwappen, kann ich nicht auseinanderhalten, will ich auch gar nicht. Wir haben hier eine einzige getriebene Masse pogotanzender Punkrocker, plötzlich bin ich mitten drin, will ich auch gar nicht anders. Dabei erstaunt es mich, wie kompromisslos früh die Band ihre Kracher raushaut, ganz so, als hätte sie zu viele davon. Hier wird nicht gespart bis zur künstlichen Kunstpause mit folgender Zugabe, hier fliegen einem die eigenartigen Hooklines wie wütendes Kanonenfeuer um die Ohren. „Leb doch mehr wie deine Mutter!“, brülle ich Sänger Jan entgegen, der das bedröppelte Glückslächeln nur in solchen Momenten gegen diese aggressive Shouter-Fratze eintauscht, die sein jugendlich-unschuldiges Gesicht grotesk verzerrt, während ich in der Mitte abtauche. Über Wasser kämpfe ich mich nur, wenn es sein muss –
HUSUM!!! VERDAMMT!!! HusumverdammtnochmalHusumverdammtnochmal!!!
Dann bin ich vorne links an der Bühne und weiß immer noch nicht, wie und wieso. Vielleicht, weil das früher immer so war. Das ist der Farin-Platz, irgendwo mein sicherer Hafen, an dem ich jetzt gestrandet bin. Meine Haare kleben klatschnass an meiner Haut und machen meinen Nacken kalt, ich ringe um Atem und tausche einen dieser konspirativen Blicke mit einer Frau, die neben mir steht und Fotos macht. Etwa fünf Mädels sind links und rechts von mir positioniert, die todesmutige Entschlossenheit in ihren Blicken ehrt mich, nun mit ihnen ein Schicksal zu teilen. Zuerst sind da noch Leiber vor mir, ein massiger Typ, der ständig Beachtung will, einmal ins Mikro brüllt und dann zum Verschnaufen auf die Bühne krabbelt. Auf einmal trennen mich von Gitarrist Rotze und seinem gefährlich hin und her schlenkerndem Instrument nur noch wenige Schichten dicker Luft, eine Monitorbox und natürlich der Bühnenrand. Das teuflische Scheusal.
Kaum bin ich bei jenem angelangt, bekomme ich ihn heftig zu spüren: Hinten tost und drückt es; unerbittlich quetscht die gesamte Befüllung der Räucherkammer meine oberen Wanden zwischen sich und diese scharfkantige Metallleiste, bis wir da vorne schließlich nachgeben und wie Grashalme vornüber knicken. Autsch. Sänger Jan macht sich Sorgen und ist ganz offenbar trotzdem ziemlich stolz. „Das wird wohl die Reihe der blauen Knie werden“, beobachtet er mit prophetischer Voraussicht, und ich denk mir bloß: Aber sowas von. Jetzt ist die Zeit des Treiben Lassens endgültig vorbei, nun gilt es, möglichst fest vor Anker zu gehen und der harschen Brandung stand zu halten. Ich tue es meiner Nachbarin gleich: Beide Hände auf die Box, ein Knie auf die Bühne, den anderen Fuß fest gegen den Boden gerammt, Popo raus – und weiter.
Es überrascht mich selbst, wie stark ich genießen kann, wo es doch ums nackte Überleben geht. Vielleicht ist es die Kunst, sich an den einfachen Dingen zu erfreuen, zum Beispiel, dass das Publikum für „Pennen bei Glufke“ genauso toll nach Chor klingt, wie ich es mir beim Spaziergang durch die Straßen der Mainzer Neustadt vorgestellt habe: „Eingesperrt sind wir immer noch – es beruhigt uns sogar, dass es so ist.“ Diese Jungs müssen nicht mit Klassikern punkten, die neuen Songs machen genauso high und wütend, werden genauso kehlig mi tgebrüllt und mit gefühlt wie alle alten. Kein Grund zu Meckern für niemand. Es beflügelt mich irgendwie, zu merken, dass die fünf Freunde da oben die Stücke ihrer aktuellen Platte von vorn bis hinten im Herzen und tierischen Bock haben, sie auf die Menschheit loszulassen – das ist nicht selbstverständlich. Und dieses übertrieben herzerwärmende Jungslächeln von Sänger Jan ist es auch nicht.
Ebenso wenig selbstverständlich ist es, dass wir es schaffen. Immer wieder scheint die Welle brausend Überhand zu gewinnen, lässt mich peinlich hilflos auf den Bühnenboden klatschen und beinahe das Kinn einer Leidensgenossin auf unschöne Weise mit der Monitorbox zusammentreffen. Besorgt bücke ich mich nach ihr, sofern es mir selbst möglich ist, und ziehe sie am Arm aus dem Morast. „Alles okay“, sagt sie tapfer grinsend und bringt sich direkt wieder lauthals grölend in Position: „Viel zu blau, viel zu grün, viel zu grell und viel zu…“ Jah. Blau und Grün sind später tatsächlich auch meine Knie, und selbst dann erinnert sich mein vermaledeites Unterbewusstsein noch an den schneidenden Schmerz und das astrein masochistische Glück, das damit einher ging. Längst nicht nur kleine Buben tragen Narben, Beulen und gelblich-braune Blutergüsse mit Stolz auf ihrem Körper, erinnern sie doch an die Schönheit des Schrecklichen, den Genuss des kompromisslosen Feierns und daran, wie tough man doch ist. Ich und die paar anderen Mädels haben jetzt erstmal anderthalb Wochen keine ganz so schönen Beine mehr, soviel ist klar, dafür können wir mit Stolz an die Ekstase zurückdenken. Und dann war da auch noch Sänger Jan mit seinem ungläubigen Eisbällchengrinsen, der nach zwei großartigen Zugaben dem Publikum applaudierte und sich nur im Rückwärtsgang von der Bühne schleppen konnte; und da war sein Satz, der die letzten Zweifel an der eigenen Hardcore-Seele verpuffen ließ.
„Die Mädels in der ersten Reihe sind super“, hatte er gesagt und damit garantiert nicht unsere Schönheit oder Grazie, sondern den Schweiß, die Aufopferung und die Zähigkeit honoriert. Das ist doch mal ein Satz von einem, der es wissen muss – ein Satz, der einen über so einen Winter bringen kann, in dem man wieder glaubt, zu zart besaitet oder für irgendwas Gutes nicht gemacht zu sein: Die Mädels in der ersten Reihe sind super.